Sanftheit und Stärke

Heute war ein aufwühlender Morgen. Nicht nur, dass wir im Geschäft erst vor kurzem vor unserem Fenster die Erschiessung einer Frau miterleben mussten. Nein, auch heute begleitete mich die Gewalt. Sie trägt viele Gesichter.

 

Ein verwirrter Randständiger war im Tram und hat laut vor sich hingeflucht. An sich nichts neues in Zürich. Dieses Mal ist er aber mit einer Frau (eine normale Pendlerin) in die Haare geraten. Sie eine starke, moderne Frau. Sie hat ihm Paroli geboten – selbstbewusst, bestimmt, anständig. Doch er fühlte sich nur provoziert.

 

Ich praktiziere seit Jahrzehnten Kung Fu. Und meditiere seit fast 30 Jahren. Diese Kung Fu- und Meditations-Erfahrung waren vielleicht die Gründe, warum ich ruhig und stark und neutral bleiben konnte. Da bin ich ruhig aufgestanden und hab mich mal einfach schweigend neben sie gestellt (natürlich so, dass ich bei einer allfälligen Attacke optimal gestanden wäre und die Attacke bestmöglichst hätte abwehren können). Alleine dieses stille Hinzu-Stellen hat die Situation schon beruhigt.

 

Später ist ein älterer Mann eingestiegen und hat den Randständigen versehentlich angerempelt, da dieser den Weg versperrt hat. Da ist der Randständige ausgetickt und hat ihn nach hinten gerissen. Zum Glück ist ein anderer Passant aufgestanden – und konnte den anderen Passanten noch „retten“. Alle Passanten hellwach und irritiert. Der Randständige hat den helfenden Passanten zuerst mal beschimpft, der ist zum Glück ruhig geblieben.

 

Die Frau hat ihn anständig, aber bestimmt zurechtgewiesen. Die haben dann fast Streit bekommen und ich befürchtete schon, dass er sie schlägt, denn er war ausser sich.Also setzte ich mich in ihre Nähe, auch wieder so, dass ich einen potenziellen Angriff (an sie wie auch an mich) bestmöglichst abwehren könnte - ohne Garantie dabei nicht verletzt zu werden. Doch mit grossen Fähigkeiten kommt auch grosse Verantwortung. Einfach wegzugehen kam für mich nicht in Frage.

 

Ich beobachtete ihn ohne ihn anzustarren. Ich war hochgradig präsent, alle Sinne geschärft - und doch emotional ruhig und neutral. Während ich ihn beobachtete, bemerkte ich, dass er auf einem Auge blind war. Und er hat sich darüber ausgelassen, dass er blind ist und was er schon erlebt habe.

 

Da realisierte ich, was in ihm vorging, wie er die Welt und die Situation von vorhin wahrgenommen hatte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Eingeschränkt durch sein Auge hat er den älteren Mann nicht wahrgenommen. Gefangen in seinen alten Verletzungen meinte er von der Gesellschaft vernachlässigt und vom Leben benachteiligt zu sein. Und aus heiterem Himmel rempelt ihn einfach so ein Kerl an. -- Bämm! -- Darum rastete er aus. Jetzt war mir alles klar.

 

Und ich empfand tiefes Mitgefühl für ihn. Da meinte ich leise zu ihm: „Das tut mir leid, dass dir das passiert sei. Aber die anderen haben dir nichts getan.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.

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Meditieren ist nicht nur Theorie, sondern auch Praxis: Mitgefühl im Alltag kultivieren.

Und da wurde er ruhig. Ab diesem Moment hat er nur noch mit mir geflüstert. Ist leise geworden. Und ich habe ihn angeschaut – und war voller Mitgefühl für diese arme Seele, diesen gequälten Menschen. Ich habe ihn angenommen, wie er ist. Und er hat das gespürt. Und er wurde ganz ruhig im Ton, in der Bewegung, in der Verfassung. Ist sogar, als ich ihn darauf hinwies, zur Seite gegangen, um der Frau Platz zum Aussteigen zu machen. Er hat sich dann bei mir beklagt über sein Leben und dass er keine Kraft mehr hätte. Als er ging, wünschte er mir einen schönen Tag - und war sehr, sehr freundlich.

 

Ich empfand einfach nur Mitgefühl für diesen Mann – und für die anderen, die er beschimpft und angegriffen hatte.

 

Da wurde mir bewusst: Wir alle leben manchmal in unserer Realität wie der Randständige, und sehen die Realität der anderen nicht. Er war verwirrt – und so sind wir es manchmal auch. Man muss ihn nicht damit durchgehen lassen, aber manchmal hilft es, statt laut zu werden, entgegen unserem Impuls leise zu werden, Verständnis statt Widerstand zu zeigen. Denn in seiner Verzweiflung, Frust und wegen seiner eingeschränkten Sicht empfand er den Rempler als Angriff, die Zurechtweisung als Angriff. Erst mein Flüstern brachte ihn dazu zu realisieren, dass wir es nicht böse meinen mit ihm.

 

Wir alle verrennen uns in unserer Realität, sehen nur einen Ausschnitt dessen, was wirklich ist. Das zu erkennen, hilft vielleicht, Verständnis zu haben für die Menschen um uns herum, die ebenfalls nur einen Ausschnitt sehen. Meditation kann dir helfen, die Perspektive zu wechseln und die Welt durch die Augen der anderen Menschen zu sehen. Meditation kann dir helfen, aus deinem kleinen Käfig deiner Vorstellungen und Glaubenssätze auszusteigen und die Welt grösser, weiter und farbiger zu sehen. Und vor allem: Meditation kann dir helfen Mitgefühl zu kultivieren. Doch gelebte Meditation ist eine Aufforderung, dieses Mitgefühl auch im Alltag einzubringen und echt zu leben. Nicht Mit-LEID, aber Mitgefühl.

 

Euch allen einen friedvollen Tag.